Im Jahr 2011 beendete ich eine 15-jährige Karriere in der Finanzindustrie. Ich ging im Winter für acht Wochen ins Kloster Frauenwörth auf der Fraueninsel im Chiemsee, um zu erkennen, was ich beruflich wirklich wirklich möchte.
Wie oft fühlen wir uns in einer Tretmühle gefangen. Keine Zeit, durchzuatmen und über das wichtigste im Leben nachzudenken: uns selbst. In aller Hektik wird der Urlaub gebucht. Und schon zwei Tage nach der Rückkehr ist der Effekt verflogen.
Vor genau zehn Jahren beschloss ich meine Karriere als Banker zu beenden. Ich sah darin keinen Sinn mehr. Ich hatte keine Lust, Sklave hoher Bezüge und einer sicheren Altersvorsorge zu sein. Ich wollte jetzt einen sinnvollen Job machen, im Hier und Heute das Gefühl haben, einen Beitrag zu leisten. Die Bankbranche hatte meines Erachtens ihren wahren Zweck aus den Augen verloren – dort ging es nur noch um schnelle Profite. Als sich eine Gelegenheit bot, kündigte ich und bekam eine Abfindung, die mir den Neustart in ein anderes Berufsleben ermöglichte.
Aber in welches?
Ich hatte viele Ideen, aber keinen wirklichen Plan. Ich brauchte Ruhe und Zeit zum Nachdenken. Ich hatte über den Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck („Das Leben der Anderen“, „Werk ohne Autor“) gelesen, dass er ins Kloster ging, um auf neue Ideen zu kommen.
Das hatte mich irgendwie inspiriert. Aber als männlicher Protestant im katholischen Frauenkloster – geht das? Ich wollte es wissen. Niemand fragte bei der Anmeldung nach meiner Konfession. 50 Euro Vollpension, wer vormittags mitarbeitet, bekommt Kost und Logis umsonst.
Ende November: Im Trubel des Münchner Hauptbahnhofs stieg ich in den Regionalexpress Richtung Salzburg, eine Stunde durch die oberbayerische Hügellandschaft, in Prien am Chiemsee ausgestiegen, mit dem Rollkoffer 20 Minuten bis zum Anlegesteg in Stock gelaufen, als einer von drei Passagieren an Bord der MS Berta. Im glatten Chiemsee spiegelt sich das Bergpanorama, Möwen begleiten das einsame Schiff – und schon war ich weit weg vom Alltag, in einer ganz besonderen Welt. Im Osten tauchte das Kloster Frauenwörth auf – mit markantem mittelalterlichen Turm. Die Fraueninsel ist uraltes Kulturland, eine kleine Welt für sich, deren Umfang nicht mal einen Kilometer misst. Die Gemeinde Chiemsee ist mit 300 Einwohnern, die auf der Herren- und der Fraueninsel leben die zweitkleinste Gemeinde Bayerns. Das Kloster wurde 782 von Tassilo III gegründet. Viele Pilger kommen und verehren die Heilige Irmengard, die erste Äbtissin und Schutzpatronin Schwangerer Frauen. Mit einer Unterbrechung wird dort seit 12 Jahrhunderten nach den Regeln des Benedikt gebetet und gearbeitet. Als ich jetzt im Dezember alleine über den langen Steg Richtung Klosterpforte marschierte, hatte ich Respekt vor dem Leben hinter Klostermauern, den fremden Riten und Regeln.
Im Kloster gibt es ein Gästehaus. Es ist mit den Mitgiften von Nonnen aus Jahrhunderten eingerichtet. Bad und WC auf dem Gang. Dafür aber großzügige Zimmer, teilweise mit herrlichem Blick auf den See und die Berge. Ich betrete den Speisesaal. Wir sitzen um einen Tisch, sieben Gäste, wie sich im Gespräch herausstellt nur drei davon Katholisch. Es gibt leckere Hausmannskost. Eine ehemalige Schülerin des Mädcheninternats führt mich in die Welt Benedikts ein. Viermal täglich wird im Chorgestühl gebetet, die Gäste dürfen daran teilhaben, wenn sie wollen. Zu den Mahlzeiten sollte man pünktlich sein, sonst verpasst man das Tischgebet. Die Gespräche sind tiefgründig und sehr persönlich, aber die üblichen Statusmeldungen (mein Haus, mein Urlaub, mein Job) fallen weg. Zwischen beten und essen verbringt man die Zeit auf dem Zimmer oder spaziert über die einsame Insel. Einige Mütter junger Kinder nutzen die Chance und schlafen sich aus.
Wenn ich bisher in Gasthöfen übernachtete und ein Kruzifix hing an der Wand, nahm ich es vorsichtig ab. Ich fühlte mich beobachtet fühlte und nicht besonders wohl in Gegenwart eines Toten. Hier aber ist Jesus Hausherr. Hier gehört er hin. Friedlich sieht er mich an. Komisch, an diesem Ort fühle ich mich in seiner Gegenwart geborgen. Am nächsten Tag nehme ich an der Laudes teil. 30 beeindruckende Frauen in schwarzen Kutten sitzen im Chorgestühl und singen gregorianische Gesänge. Ich verstehe den lateinischen Text nicht, aber ich spüre die Gemeinschaft. In den vergangenen Wochen hatte ich häufig Streit mit meiner Frau. Seit ich meinen Job bei der Bank aufgegeben habe, ist die Situation angespannt. Ich unterstelle Celia, dass sie im Gegensatz zu mir unser Leben nicht ändern möchte. Eine angespannte Situation. Die Schwestern haben wunderschöne Stimmen. Ihr Gesang ist ergreifend. Plötzlich sehe ich Celia vor mir. Ich sehe ihre Augen, die mich ansehen. Und ich erkenne den göttlichen Glanz darin. Mir wird bewusst, was für ein ungeheuer schönes und wertvolles Geschenk Sie in meinem Leben ist. Ich bin tief ergriffen. Das starke Empfinden in der Chorkapelle wirkt noch heute nach, ein halbes Jahr später.
Die Klosterfrauen führen ein radikal anders Leben als wir Großstädter. Sie verzichten auf persönliches Vermögen, tragen schwarze Kutten, jeder Tag folgt exakt dem gleichen Rhythmus, wenn Sie aufs Festland wollen, benötigen sie die Zustimmung ihrer „Mutter Äbtissin“. Als ich mit einer Schwester darüber spreche, sagt sie zu mir: „Wissen Sie, ich bin ein Glied in einer unendlich langen Kette. Seit mehr als tausend Jahren wird hier viermal täglich jeden Tag Gott verehrt. Jetzt sitze ich für ein paar Jahrzehnte auf einem Stuhl, wie viele Nonnen vor mir und viele, die nach mir kommen werden“. Diese Einordnung in einen großen, quasi unendlichen Bezugsrahmen hat etwas Beruhigendes. Sie befreit einem von dem Druck der individualistischen Leistungsgesellschaft, man wird von einer starken Gemeinschaft aufgefangen. Immer mehr Spätberufene gehen in die Klöster, Frauen, die erwachsene Kinder haben und sich eine neue, spirituelle Lebensperspektive erschließen wollen. Überall auf der Insel spürt man die Ruhe, Kraft und Heiligkeit des Ortes. Ich kann hier mit einer Hingabe Bücher lesen wie sonst nirgends, ich habe andere, tiefsinnigere Gedanken, andere Träume, ein erweitertes Bewusstsein. Wir draußen leben unter Karrieredruck, Freizeitstress, Finanzsorgen und leiden unter Terminstress. Während in München die Neuhauser Straße im Weihnachtsendfieber aus allen Nähten platzt, freuen sich die Schwestern im Kloster auf die wunderschöne Krippe und schmückten das Kirchenschiff aus. Letztes Jahr gab es einen Skandal. Als am Weihnachtsmorgen die Krippe enthüllt wurde, lag nicht das Christkind im Stroh. Stattdessen hatte es sich der dicke Klosterkater zwischen Josef und Maria bequem gemacht. Eine Schwester erzählt es mir mit leuchtend-verschmitzten Augen. Als ich am Tag vor heilig Abend auf dem einsamen Schiff die Rückreise antrete, weiß ich: der Aufenthalt hat mich verändert. Ich habe eine tolerante Gemeinschaft beeindruckender Frauen erlebt und spirituelle Einblicke erhalten, die mir Kraft geben und lange nachwirken werden.